Heinz Schmitz

Achill in Vietnam

(Durch Seitenzahlen ergänzte Besprechung des Buchs von Jonathan Shay in der Tageszeitung DER LANDBOTE vom 31.10.1999 )

Die schrecklichen Bilder und Berichte aus dem Kosovo sind uns noch gegenwärtig. Wie kommt es überhaupt, dass ein Mensch im Krieg alle menschlichen Hemmungen ablegt und ?wie ein Tier" wütet? Wie findet ein solcher Mensch wieder den Weg zurück zur menschlichen Gemeinschaft? Diesen Fragen geht der amerikanische Psychiater Jonathan Shay in seinem Buch ?Achill in Vietnam" nach. Er untersucht darin die Berichte amerikanischer Soldaten, die nach ihrem Einsatz in Vietnam an schweren posttraumatischen Persönlichkeitsstörungen (post-traumatic stress disorder, PTSD) leiden. Die Methode der Untersuchung ist ungewöhnlich: Shay vergleicht die Erlebnisse dieser Soldaten mit den Erlebnissen Achills und anderer homerischer Krieger. Dabei fällt sowohl auf das alte Heldenepos aus dem siebten Jahrhundert vor Christus wie auf die moderne Gesellschaft (besonders auch, was ihren Umgang mit dem Tod betrifft) neues Licht. Es geht hier also nicht um eine der sattsam bekannten oberflächlichen Parallelisierungen (?Schon die alten Griechen und Römer..."), sondern um einen Vergleich, der auch die Unterschiede hervorhebt und für die Erkenntnis fruchtbar macht.

 

Der Krieg traumatisiert die Menschen - nicht nur die Opfer, sondern auch die Täter. Im Zentrum von Shays Überlegungen zu PTSD steht der nordische Begriff des Berserkers. Wenn ein Soldat in den Zustand der Berserkerwut gerät, verliert er jede menschliche Hemmung. „Ich war ein verdammtes Tier" (126) berichten Veteranen wiederholt, genau so, wie Achill sich selbst mit einem Tier vergleicht und am liebsten das Fleisch des toten Hektor „roh verschlingen" möchte (Ilias 22,346). .Der Berserker lässt jede Vorsicht ausser Acht. „Ich fühlte mich wie ein Gott, diese Macht durchströmte mich. Jeder hätte mich da herunterschiessen können - aber ich war unberührbar" (128). Tatsächlich kämpften amerikanische Berserker in der Regel ohne Helm und Flakjacken, wie wenn ihnen nichts zustossen könnte. Ebenso will Achill bei der Nachricht vom Tode seines Freundes Patroklos gleich auf die Feinde losstürmen, obwohl er keine Rüstung hat. Das Berserkertum führt in den Fällen, die Shay untersucht hat, mit Sicherheit zum Ruin. Es „führt zur Entstellung des Soldaten oder zum Tod im Kampf - was das häufigste Ergebnis ist - und im Falle des Überlebens zu lebenslangen psychischen und physischen Verletzungen. Ich glaube, wenn eine Person einmal in die Berserkerphase eingetreten ist, dann ist sie für immer verändert." (145). Viele sind nur nach intensiver Therapie imstande, wenigstens ein halbwegs „normales" Leben zu führen.

 

Der Zorn des Berserkers entsteht aus dem „Verrat an dem, was recht ist". „Recht" (Shay verwendet dafür gelegentlich den griechischen Begriff "

thémis') bedeutet hier nicht eine Sammlung von Gesetzen, sondern die elementaren ungeschriebenen Rechtsgrundsätze, an die wir zum Beispiel im Schweizerdeutschen appellieren, wenn wir sagen „Das isch eifach nöd rächt". In der Ilias (die mit den Worten „Den Zorn singe, Göttin, des Peliden Achilleus" beginnt) besteht dieser Verrat darin, dass Agamemnon dem Achilleus das Beutemädchen Briseis wegnimmt, weil er selbst auf Befehl der Götter die erbeutete Chryseis ihrem Vater zurückgeben musste. Das erscheint uns Heutigen schwer verständlich, wird aber von Shay treffend erklärt:"Ein vergleichbares Handeln in der Gegenwart könnte darin bestehen, dass ein Befehlshaber einem Soldaten mitteilt:'Ich werde statt Deiner die Ehrenmedaille des Kongresses annehmen, weil ich sie noch nicht habe.' " (37) In Vietnam war es häufig das Gefühl, in elementarer Weise von den Vorgesetzen unfair behandelt zu werden, was die Soldaten zum Berserkertum trieb. Der Verrat an dem, was recht ist, führt zu einem Wandel des Charakters. Achill spricht selbst davon, wie er vor seinem wilden Wüten gegen die Feinde durchaus geneigt war, Gefangene zu schonen (Ilias 21, 99ff.). Entsprechendes findet sich in unzähligen Berichten von Veteranen, die sich an die Phase erinnern, in der noch nicht „Scheisse" oder „Alles egal" die dominierenden Begriffe waren.

 

Unmittelbarer Auslöser des Berserkertums ist oft der Verlust eines lieben Kameraden, womit oft auch Schuldgefühle verbunden sind. („Als er mich brauchte, war ich nicht da...Ich hätte selber auf diese Scheisspatrouille gehen sollen" [110] - „[...] da ich dem gefallenen Freund nicht helfen wollte [...] Ich sitze bei den Schiffen, eine nutzlose Last der Erde" [Ilias 18, 100ff.]). Die Trauer über den Verlust schlägt um in Aggression gegen den Feind. Dies wurde von den Offizieren in Vietnam noch gefördert mit der stereotypen Aufforderung: „Lass dich nicht hängen! Zahl's ihnen heim!"

 

Hier zeigen sich auch tiefgreifende Unterschiede zwischen den Berichten aus Vietnam und der Erzählung Homers. Bei Homer hinderte niemand einen Soldaten daran, über den Tod eines Gefährten zu weinen und zu klagen. Die Leiche wurde (oft während der nächtlichen Waffenruhe) geborgen. Sie wurde liebevoll für die Bestattung hergerichtet, man nahm Abschied vom Toten. (Bei Homer ist mehrmals davon die Rede, dass man sich an der Klage „sättigt"). In Vietnam wurde die Leiche mit den Verwundeten aus der Kampfzone entfernt und so rasch wie möglich in die USA spediert. Oftmals wurde dadurch sogar ein kurzer Abschied vom Gefallenen verunmöglicht. Trauer galt als Zeichen von Verweichlichung. Erschwert wurde die Verarbeitung des Traumas noch dadurch, dass die Soldaten ihren Heimaturlaub immer individuell antraten. Wenn das Bedürfnis, über das Schreckliche zu reden, besonders gross war, war keiner da, der aus eigenem Erleben gewusst hätte, wovon der Leidende sprach. Der Trauernde fiel aus der Gemeinschaft heraus.

 

In der Welt der Ilias ist etwas noch ganz, was für die Vietnam-Veteranen endgültig zerbrochen ist. Viele von ihnen sind trotz Therapien nicht mehr imstande, einer geregelten Arbeit nachzugehen und in einem stabilen Beziehungsnetz zu leben. Nachdem Alkohol und Drogen schon während des Einsatzes in Vietnam unentbehrliche Medikamente geworden waren, ist bei vielen ein massiver Einsatz von Psychopharmaka nötig, um sie in einem halbwegs sozialverträglichen Zustand zu halten. Achill hingegen wird - was bei Shay etwas zu kurz kommt - im eigentlichen Sinn resozialisiert. Im letzten Gesang der Ilias schicken die Götter, empört über Achills unmenschliches Verhalten, seine Mutter Thetis zu ihm. Sie bringt ihn dazu, dass er endlich bereit ist, die Leiche Hektors nicht mehr weiter zu schänden, sondern gegen Lösegeld an die Troianer herauszugeben. Hektors Vater Priamos, der König von Troia, kommt zu ihm und ergreift die Hand, die so viele seiner Söhne erschlagen hat. Beide weinen: Priamos um den Verlust seiner Söhne, Achill, im Bewusstsein seines baldigen Todes, um seinen Vater Peleus, der ebenso um ihn weinen wird wie jetzt Priamos um seine Söhne weint. „Lassen wir die Schmerzen ganz ruhen in unseren Herzen! Denn es kommt kein Nutzen von der grässlichen Klage. So nämlich haben es die Götter den unglücklichen Sterblichen zugesponnen, dass sie im Elend leben, und sie selber sind ohne Leid." (Ilias 24, 525ff) Gewiss kein Happy End, aber ein Ende in Würde und Menschlichkeit.

 

Homers Ilias ist kein Kriegsbericht, der die Geschehnisse ungefiltert - was immer auch das heissen mag - im Massstab eins zu eins wiedergibt. Homer schildert für ein aristokratisches Publikum einen Krieg aus heroischer Vorzeit. Umso erstaunlicher ist es, wie sehr seine Schilderungen mit den Erlebnissen der Soldaten in Vietnam vergleichbar sind. Deshalb ist es auch sinnvoll, wenn Shay nach dem fragt, wovon Homer nicht spricht - nur muss man dabei im Auge behalten, dass die Ilias eben ein literarisches Werk ist. Shay zählt vor allem Folgendes auf: Hunger und körperliche Qualen (was in der Odyssee freilich zur Sprache kommt), Feuer von der eigenen Seite (was in Vietnam Ursache war für mindestens fünfzehn Prozent der Verluste), Mord an den eigenen Vorgesetzten, das Leiden der Verwundeten (obwohl die Wunden selbst ausführlich geschildert werden).

 

Die grösste Differenz zeigt sich bei der Art, wie der Feind geschildert wird. Für die Amerikaner waren die Vietnamesen stinkende Gelbe, eine Art Untermenschen, denen menschliches Empfinden unbekannt war. „Wir schossen sie tot, und wissen Sie, es war ihnen vollkommen egal. Sie hatten überhaupt keinen Begriff von Leben" (154). Rassistische Verachtung hatte schon das Verhältnis der Amerikaner zu den Japanern beherrscht - mit der fatalen Folge, dass man die Fähigkeiten des Gegners krass unterschätzte. Dem gegenüber geht die Ilias von der Fiktion aus, dass Griechen und Troianer sogar die gleiche Sprache sprechen (wie dann ja auch später Odysseus um die halbe Welt irren kann, ohne jemals sprachliche Probleme zu haben). Der Feind wird zwar bekämpft, aber nicht verachtet. Nachdem das Duell zwischen Aias und Hektor unentschieden ausgegangen ist, beschliessen die beiden, ihre Waffen zu tauschen, was, wie Shay bemerkt, „in einem modernen Heer ein strafwürdiges Verbrechen darstellen oder zumindest eine psychiatrische Untersuchung auslösen würde." (158). Ob ein solcher Waffentausch in archaischer Zeit eine reale Grundlage hat, mag offen bleiben. Wichtig ist hier nur, dass sich Homer und sein Publikum einen Krieg vorstellen, in dem nicht notwendigerweise der Feind als Untermensch verachtet wird.

 

Die griechische Kultur der Antike war sehr stark geprägt von urtümlichen Verhaltensmustern und hat zugleich in einzigartiger Weise ihr Verhalten auf höchstem intellektuellem Niveau reflektiert. Dies gilt schon für Homer, der zwar noch weit entfernt ist von der philosophischen Abstraktion, dafür aber das Verhalten der Menschen analysiert, indem er es ganz genau beobachtet. Shays Buch zeigt einmal mehr, wie wertvoll diese Beobachtungen am Menschen auch heute noch sein können, wie gross die gemeinsame emotionale Basis ist, die uns mit diesen Menschen verbindet, die vor mehr als 2500 Jahren lebten. Es stellt sich die Frage, was wir von den Griechen lernen können. Eine Rückkehr zu archaischen Verhältnissen ist ja nicht möglich und wäre auch gar nicht wünschbar, eine isolierte Wiederbelebung alter Rituale führt im besten Fall zu einer Art emotionalem Ballenberg-Effekt.

 

Shay, der den Krieg wie Homer als Bestandteil der condition humaine sieht, ist kein Pazifist. Er will die Schäden, die der Krieg hervorruft, möglichst beschränken und zieht aus seiner Ilias-Lektüre unter anderem folgende Schlüsse: Die Vergesellschaftung der Trauer der Soldaten muss ermöglicht werden, keine Ermutigung zum Berserkertum, das nur kurzfristige Vorteile bringt, Verzicht auf Demütigung der Soldaten als Teil der Motivation (in der Hoffnung, dass sich die Aggression des Soldaten dann gegen den Feind richtet), Respekt für den Feind als menschliches Wesen. Dies führt zu Konsequenzen, die über das Militärische hinausgehen: „Wir müssen unsere eigenen neuen Modelle des Heilens schaffen, die die Vergesellschaftung des Traumas betonen. (...) Wir benötigen ein modernes Gegenstück zu attischen Tragödie. Die Tragödie führt uns dahin, unsere Sterblichkeit in ihrem Wert schätzen zu lernen, zu spüren und anzuerkennen." (262)

Jonathan Shay, Achill in Vietnam. Kampftrauma und Persönlichkeitsverlust. Mit einem Vorwort von Jan Philipp Reetsma. Hamburg: Hamburger Edition, 1998

(Nachtrag 2001: Vgl. jetzt Lawrence A. Tritle, From Melos to My Lai: War and Survival. London/New York: 2000. Pp. 240. $75.00. ISBN 0-415-17160-1. Bespr. in BMCR 2001.03.03).

(Nachtrag 2003: Jonathan Shay, Odysseus in America: Combat Trauma and the Trials of Homecoming .   New York:  Scribner, 2002.  Pp. xvi, 329.  ISBN 0-7432-1156-1.  $25.00. Bespr. in BMCR 2003.07.39 )

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