Das abenteuerliche Leben des Schweizer Philhellenen Johann Jakob Meyer, Redaktor der ersten Zeitung in Griechenland

von Heinz Schmitz

 

Im April 1826 waren die griechischen Freiheitskämpfer in Mesolonghi von den Türken eingeschlossen. In letzter Verzweiflung versuchten sie auszubrechen. Nur wenigen gelang der Durchbruch. Wer von den Verteidigern übrig blieb, sprengte sich selbst in die Luft. Als die Türken in die Stadt eindrangen, richteten sie ein entsetzliches Massaker an. Die Nachricht von dieser Katastrophe ging als Fanal um die Welt. Mesolonghi wurde zum Symbol für den Freiheitskampf eines tapferen kleinen Volkes und für orientalische Barbarei. Viele Reflexe in Literatur und Kunst zeugen davon, darunter auch Delacroix' „La Grèce expirant sur les ruines de Missolonghi", von dem eine Fassung, gemalt unter dem frischen Eindruck der Katastrophe, in der Sammlung Oskar Reinhart zu sehen ist.

Eugène Delacroix, La Grèce expirant sur les ruines de Missolonghi (Sammlung Oskar Reinhart am Römerholz, Winterthur).

Heute ist Mesolonghi ein verschlafenes Provinzstädtchen. An die grosse Geschichte erinnert das Hotel „Liberty" und ein „Park der Helden". Hier wird an den Denkmälern anschaulich, welches Echo der griechische Freiheitskampf im Westen ausgelöst hatte. Nicht nur aus Mittel- und Südoreupa kamen die Freiwilligen, sondern auch aus dem hohen Norden und den USA. Einen Ehrenplatz unter diesen Denkmälern nimmt ein einfacher Stein ein mit der Aufschrift:"Ioannis Iakovos Maier. Schöfflisdorf 1798 - Mesonlonghi 1826. Herausgeber der Zeitung‚Ellinika Chronika' ".

Das Denkmal für Meyer Denkmal der Amerikaner

Was mag diesen Mann aus der Zürcher Landschaft dazu bewogen haben, sich dem Freiheitskampf der Griechen anzuschliessen? Geht man seinen Spuren nach, so trifft man auf das wechselhafte Schicksal eines Mannes, der zunächst als „liederlicher Mensch" aktenkundig war, dann von den Zeitgenossen als „vortrefflicher Schweizer" gerühmt und schliesslich als „edles Kind der helvetischen Felsen" und würdiger Nachfahre Wilhelm Tells gepriesen wird.

 

Johann Jakob Meyer, Bürger von Schöfflisdorf, wird am 30. Dezember 1798 in Zürich als Sohn eines Arztes geboren. Er erlernt den Apothekerberuf und lässt sich 1816 in Dättlikon nieder. Am 24. April 1817 - als Achtzehnjähriger - heiratet er Salomea Staub von Hombrechtikon. Was ihn dazu getrieben hat, so jung zu heiraten, ist aus den Akten nicht klar. Jedenfalls wird die kinderlose Ehe bereits nach einem guten Jahr wieder aufgelöst, weil der Mann die Frau betrogen und leichtsinnig Geld ausgegeben hat. Er zieht nach Paris und will dort am 14. Juli zufälligerweise Frau von Staël nach ihrem Tod gesehen haben.(Ihr Gehirn, so berichtet er, sei viel kleiner gewesen als das des Lords Byron). 1818 ist er bereits wieder in Dättlikon. Dreimal wird er vor Gericht zitiert, erscheint aber nie. Bereits 1819 ist er, nach einer Zwischenstation in Frauenfeld, in Freiburg i.Br., um Medizin zu studieren. Auch hier häuft er Schulden auf Schulden und wird bereits nach einem Semester von der Universität ausgeschlossen. Zurück in der Schweiz wird er von den Behörden auf Wunsch der Freiburger gesucht, die das geschuldete Geld eintreiben wollen. Meyer, nach Auskunft der Behörden ein „liederlicher Mensch" ohne jedes Vermögen, hat keinen festen Wohnsitz mehr, erscheint aber öfters bei seinem Vater in Elgg, der mit eigener Not zu kämpfen hat und den Sohn finanziell nicht unterstützen kann. Denkbar ist aber, dass er dem Sohn ein gewisses medizinisches Grundwissen beigebracht hat.

 

Da bricht im Frühling 1821 der griechische Freiheitskampf aus und Meyer beschliesst, sich ihm anzuschliessen. Der Philhellenismus, die Begeisterung für den Freiheitskampf der Griechen, erfasst nicht nur die Intellektuellen. In den „Griechenvereinen", die allenthalben aufblühen, werden Anleihen aufgelegt, Kunstausstellungen organisiert, Lotterien und Wettbewerbe durchgeführt. Von dieser Begeisterung berichtet auch Gottfried Keller im „Grünen Heinrich": „Zu diesen verschiedenen Elementen kam und berührte sie gemeinschaftlich der griechische Freiheitskampf, welcher auch hier, wie überall, zum ersten Mal in der allgemeinen Ermattung die Geister wieder erweckte und erinnerte, dass die Sache der Freiheit diejenige der ganzen Menschheit sei. Die Teilnahme an den hellenischen Betätigungen verlieh auch den nicht philologischen Genossen zu ihrer übrigen Begeisterung einen edlen kosmopolitischen Schwung und benahm den hellgesinnten Gewerbsleuten den letzten Anflug von Spiess- und Pfahlbürgertum."

 

Robert Dünki, der den Philhellenismus in der Schweiz am gründlichsten untersucht hat (1), nennt vor allem vier Motive der Philhellenen: Religiös begründete Unterstützung der christlichen Glaubensbrüder, humanitär begründete Solidarität mit den Unterdrückten, das Bewusstsein des kulturellen Erbes der Griechen sowie die politisch (liberal) motivierte Begeisterung für eine nationale Erhebung. Solch hehre Motive dürften im Falle des mehrfach gescheiterten Johann Jakob Meyer kaum eine Rolle gespielt haben.

 

Meyer muss wohl einfach fort und Amerika ist ihm zu teuer. Zudem kommt der Freiheitskampf seinem Erlebnishunger entgegen. Er lässt sich als „Dr. Johann Jakob Meyer aus Zürich" an den Berner Hilfsverein für Griechenland empfehlen. Die Berner zahlen ihm die Reise und erfahren erst nachher aus der Neuen Zürcher Zeitung, dass sie auf einen gescheiterten Medizinstudenten hereingefallen sind. Doch da ist er bereits in Griechenland. Am 2. Februar 1822 nimmt er als Chirurg auf der „Aris" unter dem legendären Kapitän Miaulis an der Seeschlacht von Patras teil. Als „Arzt und Chirurg" bezeichnet ihn später in Mesolonghi auch ein amerikanischer Zunftgenosse. Darunter darf man sich für die damalige Zeit nichts allzu Grossartiges vorstellen. Den Doktortitel führt er auch weiterhin.

 

Die Freiheitskämpfer waren ein anarchischer Haufen. Neben den Idealisten aus dem In- und Ausland gab es eine Vielzahl rivalisierender Banden, die keineswegs nur politische Ziele verfolgten - es ist ja kein Zufall, dass die Freiheitskämpfer noch heute „kleftes" (übersetzt „Diebe") genannt werden. Die Fehden unter den „warlords" wurden auch blutig ausgetragen. Die Verhältnisse waren denen, wie man sie aus dem heutigen Kossovo oder aus Albanien kennt, nicht unähnlich.

 

In diesem Umfeld blüht Meyer auf. Erstmals in seinem Leben hat er eine echte Herausforderung vor sich. Er heiratet eine „Schöne von Mesolonghi" und wird Redaktor der ersten griechischen Zeitung. Der „Svitzeros", wie man ihn mit einem seltsamen italienisch-griechischen Wort nennt, wird als Arzt und Chirurg und auch wegen seiner Sprachkenntnisse geschätzt. Er bekleidet viele Ämter und ist ein einflussreicher Mann, nicht nur wegen der Zeitung, der er vorsteht. Temperamentvoll setzt er sich ein für den Freiheitskampf der Griechen und kümmert sich auch um die religiöse Bildung seiner neuen Landsleute. So schreibt er einmal einem englischen Arzt in Kephalonia: „Ihre Bibelsendung habe ich am letzten Sonntag vor dem Gottesdienst erhalten und begann unter einer Platane zu lesen. Ich war von Männern, Frauen und Kindern umringt, die mich fragten, was für ein Buch ich da lese. Ich erklärte es ihnen und wählte Christi Bergpredigt zu meiner ersten öffentlichen Vorlesung. Das Volk war erstaunt, Worte zu vernehmen, die es bisher niemals gehört hatte, und ich musste ihnen versprechen, das Evangelium jeden Sonntag zu erklären." So wird aus dem Schuldenmacher und Hochstapler auch noch ein Sonntagsschullehrer. Eine Idylle wie aus dem Bilderbuch.

 

Ob sie wohl in jeder Einzelheit wahr ist? Tatsache ist, dass er auch in der neuen Umgebung nicht ganz von den alten Untugenden lassen kann. 1825 kommt es im Zusammenhang mit einer offiziellen Reise nach Zakynthos zu finanziellen Unregelmässigkeiten, die den Verdacht des Betrugs nahelegen. Nicht erfunden ist hingegen eine andere Mitteilung Meyers, die man zunächst kaum gewillt ist zu glauben: dass Lord Byron 1824 in seinen Armen gestorben ist. Dies wird von zwei unabhängigen und wohlinformierten Zeugen bestätigt. Der Bericht Meyers verdient es, wörtlich zitiert zu werden, nicht nur wegen des kuriosen Französisch, das er schreibt, sondern auch deshalb, weil er Auskunft gibt über seine Rolle als Redaktor der „Ellinika Chronika": „Lord Noel Byron est mourru(!) Dans mes bras, étrange affaire que l'homme qui tousjours parlait contre le sens de ma gazette devait mourrir(!), dans mes bras, à présent je connais tous(!) les machinations qu'on a joué contre mon chronikle, mais grâce à Dieu j'ai vaincu... Byron est mort! La mort est-elle nuisible à la Grèce? Non..." Die harte Kritik an diesem Dichter, der in Europa wie kein zweiter das Philehellenentum verkörpert, ist veranlasst durch die häufigen Probleme, die Meyer mit seinen englischen Geldgebern hat. Sie fürchten negative Auswirkungen seiner forschen Tiraden in einem von Metternich dominierten konservativen Europa.

 

Tatsächlich war auch das offizielle England in seinem Umgang mit der griechischen Revolution recht zurückhaltend. Am besten illustrieren dies die Ereignisse um die Seeschlacht bei Navarino (Pylos) von 1827, also im Jahr nach der Katastrophe von Mesolonghi. Die Schlacht wurde fast aus Versehen ausgelöst. Der überwältigende Sieg der von Admiral Codrington kommandierten Engländer, Russen und Franzosen gegen die türkische Flotte löste in London, ganz anders als in Frankreich und Russland, grosse Verlegenheit aus. Der König sprach in seiner Thronrede von 1828 von einem „unvorhergesehenen Ereignis", Metternich von einer „Beleidigung ohne Gleichen".

 
Denkmal Byrons im "Park der Helden" (1881, darin befindet sich das Herz des Dichters) Souvenir- Inschrift Byrons am Poseidon-Tempel am Kap Sounion (rechts an der Cella-Mauer, sichtbar von vorne)

Ein Jahr nachdem Byron an Malaria gstorben ist, wird die Lage in Mesolonghi dramatisch. Die Türken unter Reschid Pascha belagern die Stadt, die von 5'000 Vetreidigern gehalten wird, mit 15'000 Mann. Da sie mit der Eroberung nicht vorankommen, verstärken sie sich mit weiteren 10'000 und schliessen die Stadt ein. Meyers Druckerei wird wiederholt beschossen und schliesslich so sehr zerstört, dass er die Zeitung einstellen muss. Die griechischen Typen zerstört und vergräbt er, damit sie nicht den Türken in die Hände fallen. Nach einer Belagerung von 12 Monaten beschliesst die gesamte Bevölkerung, in der Nacht vom 22. auf den 23. April auszubrechen. Der Ausbruch wird verraten und es kommt zur eingangs erwähnten Katastrophe. Die Berichte über Meyers Tod sind widersprüchlich. Am ehesten ist anzunehmen, dass er unter den Ersten, die den Ausbruch versuchten, den Tod fand. Seine Frau wurde sehr wahrscheinlich nach Serres in Nordgriechenland verschleppt, wo der berüchtigte Ismail Pascha regierte.

 

Es beginnt die dritte Phase im Leben des Johann Jakob Meyer: die Apotheose. Seine Berichte über die Belagerung, die in seiner Zeitung erschienen, sind eine erstrangige Quelle für die Ereignisse und werden immer wieder zitiert. Schon allein die Tatsache, dass er eine historisch wichtige Gestalt im Mesolonghi jener Zeit war, sichert ihm in der Geschichte eine gewisse Prominenz. Dazu kommt noch, dass er als Schweizer und Freiheitskämpfer ideal in eine Klischeevorstellung der Zeit passt (Schillers Tell erscheint 1804, Rossinis 1829). In einem 1828 erschienenen Drama „Le dernier jour de Missolunghi" eines G. Ozanneaux tritt Meyer auf als „généreux enfant des rochers helvétiques", der junge Victor Hugo feiert in seinem 1829 erschienenen Gedichtzyklus „Les Orientales" Meyer als „Kind der Berge", das den Griechen „den Pfeil Wilhelm Tells gebracht hat" (2). Das hat mit dem aus Dättlikon durchgebrannten Abenteurer weniger zu tun als mit den heroischen Skizzen, die kurz darauf Delacroix aus dem Orient zurückbringen wird. In Mesolonghi selbst verfasst 1860 der Gymnasiarch (Rektor) für ihn eine (heute verschollene) Gedenktafel, die ihn in eine Reihe stellt mit den Helden Homers, und in der Messolonghias" (9401 Verse, nach dem Vorbild der Ilias) von 1876 spielt er eine prominente Rolle. Im „Park der Helden"von Mesolonghi findet man ausser dem schon erwähnten Gedenkstein noch einen zweiten, der im Gedenkjahr 1926 von den Athener Zeitungsredaktoren gestiftet wurde. Noch heute ist er in Griechenland eine der bekannten Gestalten des Freiheitskampfs. Zwei Monographien sind über ihn in den letzten 10 Jahren erschienen (3). In der Schweiz ist er heute weitgehend unbekannt (4).

 

Was für ein Mensch war er? Sein Leben war unstet und sein Hang zu Betrug Hochstapelei ist auch dann nicht ganz verschwunden, als er in eine existenzielle Herausforderung geriet und dabei Tapferkeit und Grösse bewies. Ein seltsamer Mann. Die Erinnerung an ihn sollte auch hier zu Lande nicht ganz verloren gehen.

 

(1) Robert Dünki, Aspekte des Philhellenismus in der Schweiz 1821-183 (Bern 1984). (zurück)

(2) Im IV. Teil ("La deuxième voix") liest man:

" Voilà tous nos héros ! Costas le palicare ;

Christo, du mont Olympe ; Hellas, des mers d'Icare ;

Kitzos, qu'aimait Byron, le poète immortel ;

Et cet enfant des monts, notre ami, notre émule,

Mayer, qui rapportait aux fils de Thrasybule

La flèche de Guillaume Tell ! "

(Die Berufung auf Wilhelm Tell findet sich auch bei Meyer selbst, der kurz vor seinem Tod einem Freund schrieb: "Wir gehen unserer letzten Stunde entgegen; mich macht der Gedanke stolz, dass das Blut eines Schweizers, eines Enkels von Wilhelm Tell, sich mit dem Blute der Helden Griechenlands mischen soll" [Pavlos Tzermias, Neugriechische Geschichte, Bern 1986, 72]) (zurück)

(3) Zuletzt Spyridon Kon. Sakalis: Messolonghi 1826. Tyche Oikogeneias I. Mager kai Katalogos ton Aichmaloton ths Exodou, Athen 2000 (ISBN 960-7329-25-2. 1990 hat der Arzt Konst. G. Makrykostas von Mesolonghi eine "Biographia tou Ioannou-Iakobou Mager" geschrieben. Eine wichtige Quelle zu Meyers Leben sind seine Tagebuch-Aufzeichnungen, die Georgios Drossinis unter dem Titel "Hemerologion tes Poliorkias tes Mesolonghiou" 1926 in Athen veröffentlicht hat (2 Bände). Diese Ausgabe ist mir nicht zugänglich. Nach Auskunft von Pavlos Tzermias könnte man am ehesten in der Gennadios-Bibliothek in Athen Einsicht in diese Bände erlangen. (zurück)

(4) Grundlegend ist immer noch die Untersuchung von Emil Rothpletz: Der Schöfflisdorfer Philhellene Johann Jakob Meyer (1798-1826), Basel 1931. (Wird, soweit aus Sakalis ersichtlich ist, auch von Makrykostas ausführlich benützt). Pavlos Tzermias hat Meyer nicht nur in seiner Neugriechischen Geschichte (o. Anm. 2), sondern auch mit einem kurzen Artikel in der NZZ vom 20.04.1971 gewürdigt. - Eine leicht abgeänderte Fassung dieses Artikels erscheint im Jahre 2000 in der Winterthurer Tageszeitung "Der Landbote". (zurück)

(Nachtrag April 2000: Meyers Tagebuch aus Messolonghi liegt nun erstmals vollständig in Buchform vor unter dem Titel I imeres ton eleftheron poliorkimenon, Mesolonghi 1824-1826", ekdotis Okeanida, isagogi - simiosis Georgios Laganas. - Nachtrag 2007: Meyer war zwar Bürger von Schöfflisdorf, ist aber in Zürich geboren. Wohl deshalb, ausserhalb der Schweiz niemandem diese Unterscheidung von Geburtsort und Bürgerort klar ist, steht auf dem Denkmal in Messolonghi Schöfflisdorf als Geburtsort).

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