Heinz Schmitz

Über den Umgang mit Menschen. Szenen aus Homers Odyssee

Wer die Griechen liebt, wird immer wieder gern zu Odysseus zurückkehren, kann doch diese Gestalt wie kaum eine andere als Praefiguration des Griechentums verstanden werden - wendig, doch stets sich selber treu, von einem kargen Lande stammend und immer wieder aufs Meer verwiesen, sodaß in einer Prophezeiung eigens gesagt werden muss, er werde dereinst ausserhalb des Meeres seinen Tod finden. Darüber hinaus hat man ihn, bis hin zu Joyce und - nicht zu vergessen! - Kazantzakis, immer auch als eine Art Urbild des Menschen gesehen. Odysseus verdankt hauptsächlich seiner Intelligenz, dass er das ist, was er ist - einer Intelligenz, die in ihrer Neugier auch gefährlich ist, deren Brillanz auch manchmal fast in ein "L'art pour l'art" abzugleiten droht.

Odysseus teilt freilich mit "Ulysses" das Schicksal, dass der Zugang zu ihm verstellt ist durch ein Gebirge von gelehrten Publikationen. Dem gegenüber möchten die folgenden Ausführungen einzig und allein zeigen, dass diese Lektüre unmittelbar ansprechend sein kann. Auch soll jene Aura von Feierlichkeit, mit der man noch heute gern bedeutende Dichtung umgibt, möglichst vermieden werden..

Von welcher Seite findet man am leichtesten den Zugang zu einer Welt, die immerhin mehr als zweieinhalb Jahrtausende alt ist? Der Zugang ist wohl dort am einfachsten, wo diese Welt am unmittelbarsten als "abgespiegelte Wahrheit einer uralten Gegenwart", wie Goethe sich einmal ausdrückte (Dichtung und Wahrheit, III, 12), in Erscheinung tritt. Dieses Uralt-Gegenwärtige ist der Mensch, und er zeigt seine Eigenart vor allem darin, wie er mit anderen Menschen umgeht. Die Menschen der Odyssee zeigen dabei manchmal eine solche Feinheit und Klugheit, dass man dieses Gedicht auch als Lehrgedicht "Über den Umgang mit Menschen" sehen kann, wobei wie beim Bestseller des Freiherrn von Knigge nicht ein Regelwerk, sondern psychologische Einfühlung und Geschicklichkeit im Vordergrund steht.

Die Idee, Homers Odyssee als Lehrgedicht anzusehen, ist natürlich in keiner Weise neu. Schon der etwa 580 vor Christus geborene Xenophanes bemerkt, von Anfang an hätten alle von Homer gelernt (fr. 10 D.-K.), und die überragende Stellung der homerischen Epen im griechischen Elementarunterricht wird ja auch durch Platons heftige Kritik im "Staat" deutlich. Dabei mag es manchmal so vordergründig zugegangen sein wie im 1751 erschienenen "Versuch einer critischen Dichtkunst" des Aufklärers Gottsched, nach dem die Odyssee lehrt, "die Abwesenheit eines Herrn aus seinem Hause oder Reiche sey sehr schädlich" (160). Daneben ist aber - wenn man überhaupt annehmen will, dass die Schule auf das spätere Leben einen Einfluss hat - die prägende Wirkung dieser Gestalten auf die kleinen Griechlein sicher beträchtlich gewesen. Indem sie Gesänge Homers auswendiglernten, lernten sie Vieles durch Anschauung: So etwa, was ein Held ist, wie Frauen sich zu verhalten haben, wie das Verhältnis von Herr und Knecht zu sein hat, wie überhaupt Menschen miteinander umzugehen haben.

Zu dieser Kunst des Umgangs mit Menschen ist noch eine weitere Vorbemerkung nötig. Mein Hauptinteresse gilt dabei dieser Sprechweise, die man als "mehrdeutige" oder "mehrwertige Rede" bezeichnen kann. Ich möchte hier auf Raffinessen der Semiotik verzichten; ein einfaches Beispiel wird klarmachen, was gemeint ist.

Sage ich beim Essen "Gib mir bitte das Salz!", so ist es durchaus denkbar, dass ich mit dieser Aufforderung keine weiteren Absichten verfolge. Sie kann aber auch mehrwertig sein in dem Sinn, dass ich damit - je nach Situation - auch zu verstehen gebe:"Du weisst doch genau, dass ich so fade Rösti nicht mag!" oder "Du bist jetzt alt genug, dich bei Tisch nicht nur bedienen zu lassen!" oder "Reden wir nicht mehr davon!" oder "Mach doch nicht ein solches Gesicht!", usw. Es ist sogar denkbar, dass ein geschickter Sprecher mehrere solche Zusatzbedeutungen eines Satzes kombiniert.

Diese mehrdeutige Sprechweise ist Ausdruck einer feinen Sprechkultur. In der Odyssee sind es zumeist die sozial Höhergestellten, die sich ihrer bedienen. Manchmal tun sie dies, weil sie nur so ihre Ziele erreichen können, manchmal auch nur, weil sie höflich sein wollen. Die Fülle und Feinheit psychologischer Beobachtung zeigt uns, dass die alte Dichtung doch nicht so weit von uns entfernt ist, wie man bei der enormen zeitlichen Distanz meinen könnte.

Ein besonders eindrückliches und zudem amüsantes Beispiel für diese Technik gibt uns Odysseus selbst im 14. Gesang. Unerkannt, als angeblicher Schiffbrüchiger aus Kreta (der späteren Heimat der Lügner) hat er bei seinem getreuen Diener, dem Schweinezüchter Eumaios, gastliche Aufnahme gefunden. Nach dem Essen hat man sich zum Schlafen niedergelegt. Es ist finster, man sieht den Mond nicht, es regnet ununterbrochen bei Westwindwetter. Odysseus friert; er überlegt sich, wie er wohl zu einem wärmenden Mantel kommt. Soweit die Angaben Homers; anderes kann man aus dem, was folgt, als Überlegung des Odysseus ergänzen: Er weiss, dass er bei einfachen Leuten zu Gast ist, man sieht keine überzähligen Mäntel herumliegen - da müsste ja einer seinen eigenen Mantel hergeben, um ihn Odysseus zu leihen. Mit einer schlichten Bitte lässt sich das kaum erreichen, denn die andern frieren ja auch. So erzählt denn Odysseus, der Pseudo-Kreter, eine seiner Lügengeschichten (462ff.).

Der Anfang ist allerdings seltsam:"Höre mich, Eumaios, und alle ihr anderen Gefährten! Laut will ich ein Wort sagen. Der Wein nämlich treibt mich, der verwirrende, der auch den sehr Verständigen singen heisst, ihn lieblich lachen und tanzen lässt und ein Wort loslässt, das doch besser ungesagt bliebe." - Wozu das? Odysseus ist gewiss nicht betrunken, ist vielmehr in vollem Besitz seines klaren Verstandes, wie die Anlage der Rede zeigt. Er hat aber einberechnet, dass der, welcher nochmals zu reden anfängt, wenn alles sich zum Schlaf niedergelegt hat, sich keineswegs beliebt macht. Die angebliche Trunkenheit soll ihm die Narrenfreiheit geben, dass man ihn als schrulligen Alten reden lässt und ihm nicht ungeduldig übers Maul fährt. Und den eigentlichen Anlass seines Redens, dass er einen Mantel braucht, will er ja jetzt noch nicht nennen. "Aber da ich nun schon Lärm gemacht habe", so fährt er fort, "werde ich es nicht verbergen" (467). Eine Rede, die nichts verbirgt, eine ehrliche und wahre Rede also, kündigt er an. Und gleich beginnt er munter zu flunkern: "Wäre ich doch so jung, und wäre mir die Kraft geblieben, wie damals, als wir vor Troja einen Hinterhalt legten und befehligten! Es führten Odysseus und der Atride Menelaos, und zusammen mit diesen als dritter führte ich - sie selbst nämlich hatten es so befohlen." (468ff.). Das lässt zunächst eine der üblichen Geschichten vom Krieg erwarten, wie sie alte Leute gern erzählen. Zugleich aber macht der Pseudo-Kreter deutlich:"Ich bin nicht niemand: ich stand mit den Besten auf gleicher Stufe" (als Sohn eines reichen Mannes hatte er sich schon bei der ersten Begegnung mit Eumaios [200] vorgestellt). Kalt war es, so fährt er fort, Eiskristalle bildeten sich auf den Schilden. Die anderen hatten alle Leibrock und Mantel an und schliefen ruhig, nur er trug einzig einen Hüftschurz und hatte nicht gedacht, dass es so kalt werden könnte. "Da sagte ich zu Odysseus - er lag dicht bei mir, und ich stiess ihn an mit dem Ellenbogen, der aber hörte augenblicklich - : 'Zeusentsprosster Laërtes-Sohn, listenreicher Odysseus! Nicht länger werde ich unter den Lebenden sein, sondern die Kälte überwältigt mich, denn ich habe keinen Mantel. Ein Daimon verleitete mich, nur mit dem Leibrock zu gehen, und jetzt ist es nicht mehr auszuhalten.'" (483ff.). Das Stupfen mit dem Ellbogen - "der aber hörte augenblicklich" - macht nochmals deutlich, dass der Pseudo-Kreter ein bedeutender Mann war, denn auch damals konnte ein Gemeiner einen Heerführer nicht einfach so stupfen, wenn ihn fror. Nun flüstert der Odysseus der Geschichte: "Schweig nun, damit dich kein anderer der Achaier hört!" (493) Und bald darauf: "Hört, Freunde! Ein göttlicher Traum ist mir im Schlaf gekommen. Allzuweit haben wir uns nämlich von den Schiffen entfernt. Aber es soll einer gehen, um dem Atriden Agamemnon, dem Hirten der Völker, zu sagen, ob er nicht Mehreren befehle, dass sie von den Schiffen kommen! " Sofort steht einer auf und läuft fort - natürlich ohne den Mantel, der ihm beim Laufen nur hinderlich wäre. Und so schliesst der Kreter-Odysseus seine Geschichte ab: "Ich aber lag in seinen Kleidern, vergnügt, und es erschien die goldthronende Eos" (501f.). Mit dieser Geschichte hat er Eumaios gezeigt:"Schau mal, so wie Odysseus muss man das machen, wenn man jemandem einen Mantel verschaffen will, ohne selbst frieren zu müssen".

Aber er ist noch nicht fertig mit seiner Rede - wer weiss denn schon bei diesen einfachen Leuten, ob die Geschichte allein schon deutlich genug war! So fährt er fort: "Wäre ich doch jetzt noch so jung und die Kraft wäre mir geblieben!" Nichts Auffälliges, dass alte Leute diese Klage wiederholen - doch hier bekommt sie einen anderen Sinn, wie die Fortsetzung zeigt: "Dann gäbe mir wohl einer der Schweinezüchter seinen Mantel, wegen beidem: aus Freundlichkeit und auch aus Ehrfurcht vor einem guten Mann. Jetzt aber ehren sie mich nicht, da ich schlechte Kleider am Leib habe" (503ff.). So hat das "Wäre ich doch noch jung!" eine neue Bedeutung bekommen. Und zugleich liegt in den Worten der Vorwurf: "Ihr seid ja schon schlechte Kerle, dass ihr mich einfach so frieren lässt, nur weil ich ein alter Bettler bin!".

Die Reaktion des Eumaios zeigt, dass die feine Kunst des Umgangs mit Menschen nicht ausschliesslich Privileg der Adligen ist. Der Schweinezüchter hat in seiner feinen Menschlichkeit sehr wohl erkannt, was der Fremde will, und er gibt ihm dies mit einer kurzen, aber durchaus auch mehrwertigen Rede zu verstehen: "Alter! Einen tadellosen 'ainos' hast du mir da erzählt" (508). Ein 'ainos' ist eine Geschichte mit implizierter Nutzanwendung [West zu Hes.Op.202; vgl. auch Hoekstra ad loc.]; später hat das Wort oft die Bedeutung "Fabel". Indem Eumaios die Geschichte des Odysseus mit diesem Wort bezeichnet, gibt er ihm diskret zu verstehen:"Ich habe sehr wohl verstanden, was du willst". Und er gibt ihm, was er braucht: Er richtet ihm näher beim Feuer ein Lager und leiht ihm für diese Nacht einen der Ersatzmäntel, die herumliegen - es regnet ja noch immer, und am nächsten Morgen brauchen alle trockene Gewänder.

* * *

Will man die Odyssee als Lehrgedicht "Über den Umgang mit Menschen" verstehen, so bieten die ersten Gesänge dafür reichliches Material, wird doch hier, wie man schon lange gesehen hat, in einer Art Fürstenspiegel die Erziehung des jungen Telemachos geschildert.

Im ersten Gesang teilt Athene Zeus mit, sie gehe nach Ithaka zum Sohn des Odysseus, damit ich ihm seinen Sohn mehr antreibe und ihm 'menos' in den Sinn lege (88f.). ('menos bedeutet etwa "innere Energie, Tatkraft"). Wie will sie dies bewerkstelligen? Sie könnte, als Göttin, Telemachos durch unmittelbares Eingreifen dazu bringen, sich energischer um seine Angelegenheiten zu kümmern. So tut sie dies auch im 15. Gesang, wo es gilt, Telemachos wieder von Sparta zurück nach Ithaka zu holen: "Telemach! Es ziemt sich nicht mehr, weit entfernt von zuhause umherzuziehen, nachdem du deinen Besitz und die so hochmütigen Männer in deinen Häusern zurückgelassen hast "(15,10ff.; vgl. auch 24,530ff.). So also ihr Vorgehen im 15. Gesang, wo der junge Telemachos schon gezeigt hat, dass er willens ist, seiner Rolle als Sohn des Odysseus gerecht zu werden. Im ersten Gesang jedoch ist die Verfassung des jungen Mannes noch anders, und Athene geht als gute Psychologin auch anders vor, um ihm 'menos' in den Sinn zulegen.

Sie kommt in der Gestalt des Mentes, eines alten Gastfreundes der Familie. Im Lauf des Gesprächs fragt sie ihn: "Sage mir dies und berichte es mir genau, ob du wirklich, so gross, ein Sohn des Odysseus bist! Gar sehr gleichst du nämlich an Haupt und schönen Augen jenem."(206ff.). Warum fragt sie ihn das, wenn sie doch, als Göttin, sehr wohl weiss, wen sie vor sich hat? Man kann die Frage als Vorwurf verstehen:"So alt bist du, und ein Sohn des Odysseus, aber du benimmst dich, als wärst du ein kleiner Bub von irgendwem!" Seltsam ist auch die Antwort des Telemachos: "Die Mutter sagt zwar, dass ich sein Sohn sei, aber ich weiss es nicht. Hat doch keiner je seine Abkunft gekannt! Wäre ich doch der Sohn eines glücklichen Mannes, den auf seinen Gütern ein hohes Alter erreichte! Doch jetzt ist es der unglücklichste der sterblichen Menschen, von dem ich, wie sie sagen, abstamme - da du mich danach fragst! " (215ff.). Er ist wahrhaftig seiner Rolle als Sohn des Odysseus noch fern, muss erst noch werden, wer er ist.

Eben dazu will Athene ihm verhelfen. Zunächst kommentiert sie: "Gewiss haben die Götter dein Geschlecht nicht namenlos gemacht, da dich Penelope als einen solchen geboren hat." (222f.). Das heisst nochmals: "Du bist nicht niemand, und das ist auch eine Verpflichtung". Darauf kommt nochmals eine Frage, deren Antwort die Göttin schon kennt: Was denn das für ein Fest sei im Saal, etwa eine Hochzeit? Jedenfalls sei dies kein 'éranos', kein Fest, bei dem die Teilnehmer ihren Anteil mitbringen, "so über alle Massen zuchtlos scheinen sie mir überall im Haus zu schmausen. Da würde wohl ein Mann zürnen, der verständig wäre und dazukäme, wenn er die vielen Schandtaten sähe" Einer, der dazukäme, ein Fremder also, würde zürnen, wenn er dies sähe. Umso weniger ist Telemachos zu den Verständigen zu zählen, wenn er diesem Treiben in seinem eigenen Haus tatenlos zusieht. Diesen Vorwurf macht sie ihm, ohne ihn auszusprechen. Zudem zwingen ihn ihre Fragen, dass er - man muss es so modern sagen - seine Situation selbst formuliert, damit sie ihm selbst klar wird; eine andere Begründung ist für diese seltsamen Fragen kaum denkbar.

In seiner Antwort ist Telemachos noch weit entfernt von dem, was Athene möchte: Nach dem Willen der Götter sei sein Vater in der Fremde gestorben. Er wünscht sich nicht, wie der Leser erwarten würde, dass der Vater zurückkäme und er, der Sohn, sich zusammen mit dem Vater Ruhm erwerben könnte. Nein: er wünscht sich, dass der Vater nicht irgendwo ertrunken, sondern bei Troia gefallen wäre; "da hätten ihm die All-Achaier einen Grabhügel errichtet, und auch für seinen Sohn hätte er für nachher grossen Ruhm erworben. " (239f.). Er rechnet gar nicht mehr mit der Möglichkeit, dass der Vater noch leben könnte, obwohl ihm Athene-Mentes dies gemeldet hatte, und er wünscht sich nur, dass der Vater für ihn Ruhm erwerbe. Da verliert Athene, die Erzieherin, die Geduld. Aufgebracht fährt sie ihn an: "Oh weh! Wirklich sehr brauchst du Odysseus, der fortgegangen ist, dass er auf die schamlosen Freier seine Hände lege!...Alle hätten einen schnellen Tod und eine bittere Hochzeit...Ich befehle dir, dass du dir überlegst, wie du die Freier aus dem Haus vertreibst...Hörst du nicht, welchen Ruhm der göttliche Orestes erworben hat bei allen Menschen, nachdem er den Mörder des Vaters getötet, den listigen Aigisthos, welcher ihm seinen berühmten Vater getötet hat? " (253ff.) - Doch damit ist diese Szene noch nicht zuende erzählt: nachzutragen ist noch, was sie bei dem Jungen bewirkt hat. Penelope wünscht, der Sänger Phemios möge von anderem als vom schlimmen Schicksal der Griechen bei Troia singen. Telemachos widerspricht: Das ist nicht die Schuld des Sängers, sondern die des Zeus. Ertrage es nur, davon zu hören, schliesslich ist Odysseus nicht der einzige, der bei Troia umgekommen ist! "Aber gehe ins Haus und besorge deine eigenen Werke: Webstuhl und Spindel, und befiehl den Dienerinnen, dass sie ans Werk gehen! Das Wort wird Sache der Männer sein, aller, am meisten die meine; denn mir ist die Gewalt im Hause! "(356ff.). Das ist, möchte man sagen, reichlich pubertär, zeigt aber auch, dass der Junge selbständig wird. Sie aber staunte und ging wieder ins Haus.

Als nächste bekommen die Freier seinen Tatendrang zu spüren. Er kündigt ihnen für den nächsten Tag eine Versammlung an, an der er sie auffordern wird, nach Hause zu gehen. Wenn sie dies nicht täten, so werde er die ewigen Götter als Rächer aufrufen. "Dann werdet ihr wohl, ohne dass wir dafür büssen müssen, im Haus drin zugrundegehen! "(380). Das sind mutige Worte. Die Freier gruben alle die Zähne in die Lippen und staunten. Der Freier Alkinoos aber antwortet ihm: "Telemachos! Dich lehren gewiss die Götter selber, grosse Worte zu machen und kühn zu reden! Dass dich der Kronos-Sohn nur nicht auf dem meerumgebenen Ithaka zum König mache, was du nach der Herkunft vom Vater her bist! " (384ff.). Kein Wort zur Forderung des Telemachos, sie sollten nach Hause gehen. Der Hintersinn für dieses Ignorieren lässt sich umschreiben mit:"Was ist auch plötzlich mit dir los? Willst du etwa noch frech werden?" - Der Junge, so sieht man, wird es nicht leicht haben.

Wie hat Athene ihn dazu gebracht, dass er seine Lethargie abschüttelte? Sie, die unter allen Göttern für ihre Klugheit berühmt ist (13,298f.), wusste genau, dass in einem solchen Fall ein blosses Donnerwetter wenig hilft, und sie hat so lang wie möglich in mehrdeutiger Rede zu ihm gesprochen. So ist er, wenn auch langsam, selbst darauf gekommen, in welcher Lage er ist und was zu tun ist. - Die Götter können, es war schon davon die Rede, energisch dreinfahren, sie können die Menschen auch verachten wie Hephaistos im ersten Gesang der Ilias, der es unerträglich findet, dass die Götter sich durch einen Streit wegen der Sterblichen die Freude am Essen vergällen lassen (Il. 1,573ff.). Sie können aber auch, wie hier Athene, die Sterblichen als Partner ernstnehmen. Das erinnert an die schöne Szene im 13. Gesang, wo Athene sich mit Odysseus zusammen in den Schatten eines Ölbaums setzt, um gemeinsam mit ihm die Ermordung der Freier zu planen (372f.).

* * *

Wie geht man am besten vor, wenn man einen unangenehmen Befehl zu überbringen hat? Von Hermes, dem Götterboten, kann man hier gewiss etwas lernen, und da die Götter so menschlich sind, ist auch dies ein Beitrag zum Thema "Über den Umgang mit Menschen".

Hermes muss im 5. Gesang zu Kalypso, um ihr in Zeus' Namen zu befehlen, ihren Geliebten Odysseus nach hause zu entlassen. Wir setzen bei den Worten ein, mit denen die Nymphe Hermes begrüsst: "'Warum bist du, Hermes mit dem goldenen Stab, zu mir gekommen, Ehrwürdiger und Lieber? Zuvor bist du nicht häufig gekommen. Sag mir, was du im Sinn hast! Mein Herz befiehlt, es zu erfüllen, wenn ich es wirklich erfüllen kann und es zu erfüllen ist.' So sprach die Göttin und stellte zu ihm einen Tisch voll Ambrosia und mischte roten Nektar. Aber der trank und ass, der Geleiter und Argostöter". (87ff.). Warum antwortet er ihr nicht? Weiss er denn nicht, was sich gehört? Im Gegenteil: sie ist es, die sich nicht dem Comment entsprechend benimmt, hat sie ihn doch in der Aufregung gleich mit ihrer Frage überfallen, ohne ihn zunächst essen zu lassen. Es gilt aber die eherne Regel, einen Angekommenen zunächst zu bewirten, ehe man ihn befragt - ja, man fragt, wenn er ein Fremder ist, zunächst nicht einmal nach Name und Herkunft. "Jetzt ist es doch besser, die Fremden zu fragen, wer sie sind, nachdem sie sich am Essen erfreut haben" sagt einmal einer, der es wissen muss, der greise Nestor (3,69f.; vgl. 1,23f.; 4,60ff.; 7,234ff.; 16,54ff.). Das Schweigen des Hermes ist also beredt; es heisst:"Weisst du denn nicht, was sich gehört?". Dann, nach dem Essen, setzt er wortreich ein (97ff.): "Du fragst mich, der ich komme, die Göttin den Gott. Und so will ich dir genau das Wort verkünden, denn du verlangst es. Eine etwas umständliche Einleitung mit der Bedeutung:"Du hast ja selber gesagt, ich soll reden, also brauchst du mich nachher nicht zu beschimpfen." Dann fährt er fort: "Zeus hat mir befohlen, hierher zu kommen, ich wollte es nicht. Wer liefe denn freiwillig durch das so grosse salzige Wasser, das unsägliche? Und es ist keine Stadt von Sterblichen in der Nähe, welche den Göttern Opfer und auserlesene Hekatomben darbringen. Aber es ist auf gar keine Weise möglich, dass ein anderer Gott den Sinn des Zeus, des Aigishalters, umgehe oder zunichte mache." Dreifacher Nebensinn: 1. "Ich bin nur gezwungen hier, mich persönlich trifft keine Schuld"; 2. "Du verstehst wohl, weshalb ich zuerst einmal essen wollte"; 3. "Pass auf, mit Zeus ist nicht zu spassen!" Und dann erst, nach diesem Vorspann von acht Versen, kommt die Antwort auf ihre Frage: "Er sagt, bei dir sei ein Mann, jammervoller als alle anderen Männer, die um die Stadt des Priamos gekämpft haben"... diesen solle sie zurückschicken in seine Heimat.

Hermes hat die Wirkung seiner Worte gut berechnet: Kalypso erschaudert zwar und beschimpft die Götter (einschliesslich Hermes), dass sie den Göttinnen stets ihre sterblichen Geliebten missgönnten, aber sie sichert zu, sie werde Odysseus ziehen lassen. Der unangenehme Befehl ist überbracht und der persönliche Schaden für Hermes liess sich, dank geschicktem Vorgehen, in erträglichen Grenzen halten.

* * *

Verweilen wir noch etwas in der Sphäre der Götter! Wenn ein Gremium in Abwesenheit eines Mitglieds etwas beschliesst, was dieses masslos erzürnt, dann ist der Vorsteher in einer ungemütlichen Lage, wenn er nachher für diesen Beschluss geradestehen muss. So ergeht es Zeus, nachdem Poseidon erfahren hat, dass Odysseus trotz seinen Drohungen mit Hilfe der Phäaken nach Ithaka gelangt ist - gemäss einem Beschluss, den die Götter während seiner Abwesenheit gefasst hatten. (Diese Szene im 13. Gesang ist auch ein schönes Beispiel dafür, wie der griechische Polytheismus mit seinem labilen Gleichgewicht der Kräfte funktionierte.).

Poseidon beginnt:"Vater Zeus! Nun werde ich unter den unsterblichen Göttern nicht mehr geehrt sein, wenn die Sterblichen mich gar nicht ehren, die Phäaken, die doch aus meinem Geschlecht sind! Denn jetzt hatte ich gesagt, Odysseus werde nach hause gelangen, nachdem er viele Leiden erlitten - die Heimkehr wollte ich ihm niemals ganz wegnehmen, da du sie einmal versprochen und zugesagt hast -: die aber haben ihn schlafend im schnellen Schiff über das Meer gebracht und auf Ithaka abgesetzt, und sie haben ihm herrliche Geschenke gegeben: Erz, genug Gold und gewobene Kleidung, Vieles, wieviel Odysseus nie von Troia mitgenommen hätte, auch wenn er unversehrt gekommen wäre, mit dem erlosten Anteil der Beute. " (128ff.). Was also Poseidon ärgert ist nicht die Heimkehr als solche, sondern die Tatsache, dass Odysseus jetzt schlussendlich reicher ist, als wenn er unversehrt heimgekommen wäre. Der Zorn des Poseidon hat Odysseus also summa summarum nichts geschadet, und dies ist dem Prestige des Gottes natürlich sehr abträglich. - Wie bringt er seine Klage vor? Indem er seinen Bruder mit Vater Zeus anredet. "Vater" ist in alten Zeiten ein Machttitel. Mit dieser Anrede macht Poseidon deutlich:"Ich gedenke nicht, deine Autorität in Frage zu stellen", und dies will er gleich am Anfang klarmachen, damit ihm Zeus möglichst ohne Unwillen zuhört. Seine Loyalität bestätigt er auch mit die Heimkehr wollte ich ihm nie ganz wegnehmen, da du sie einmal versprochen und zugesagt hast. Zugleich bedeuten diese Worte:"Ich habe in dieser Sache schon einmal zurückstecken müssen. Nun ist es an euch, Konzessionen zu machen."

 

In seiner Antwort beginnt auch Zeus mit einer mehrwertigen Anrede: "Oh weh, Erderschütterer, weithin Mächtiger, was hast du da gesagt!" (140). Die Kombination zweier Attribute, welche die Macht betonen, macht deutlich: "Was willst du dich denn beklagen, ein so mächtiger Gott!" Er fährt fort: "Gar nicht gering achten die Götter deine Ehre. Schwierig wäre es, den Ältesten und Besten zu beleidigen! Wenn aber von den Menschen einer, seiner Kraft und Stärke nachgebend, dich gar nicht ehrt, so kannst du dich nachher immer rächen. Tu, wie du willst, und wie es deinem Herzen lieb ist!" Innerhalb eines klar abgesteckten Kompetenzbereichs erhält also Poseidon, wie wir heute sagen würden, grünes Licht. Er unterrichtet Zeus von seiner Absicht: er will das sehr schöne Schiff der Phäaken bei seiner Rückkehr zerschmettern auf dem nebligen Meer (...) und ein grosses Gebirge rings um die Stadt zu ziehen (150ff.).

Zeus ist damit, wie eine genaue Analyse seiner Antwort zeigt, nicht ganz einverstanden, kann sich aber nach der eben gemachten Zusage unmöglich offen Poseidon widersetzen. Er findet einen Trick, der auch in späteren Zeiten beliebt sein wird. Er beginnt: "Mein Lieber! So scheint es in meinem Herzen das Beste. Die Anrede " 0 pépon" für "Mein Lieber" ist sehr freundschaftlich, fast zärtlich. Das "So scheint es mir richtig" bezieht man natürlich zunächst auf Poseidons Absichten. Man kann es aber auch auf die folgenden Worte des Zeus beziehen, die den Plänen des Poseidon nicht genau entsprechen: "Wenn alle Männer des Volks von der Stadt aus sehen, wie das Schiff herankommt, es nahe beim Land zu Stein zu machen, einem schnellen Schiff gleichend, sodass alle Menschen staunen, und ein grosses Gebirge rings um die Stadt zu ziehen" (154ff.). Also: einverstanden mit dem Gebirge, das die Stadt umschliessen soll, aber das Schiff soll nicht zerschmettert, sondern als Naturdenkmal erhalten bleiben. Der Trick des Zeus bestand darin, dass er den Antrag seines Kontrahenten scheinbar zustimmend, tatsächlich aber leicht abgeändert wiederholte; die emphatische Zustimmung am Anfang (Mein Lieber...) half mit, die Differenz zu vertuschen. - Poseidon ist zufrieden, und alles geschieht so, wie Zeus es gewollt hat. Dank dem diplomatischen Geschick der beiden ist es nicht zum Eclat gekommen. Die Spesen freilich zahlen - wieder einmal - die Sterblichen.

* * *

Noch peinlicher als die Lage des Zeus ist die des Odysseus im 7. Gesang, wozu etwas weiter ausgeholt werden muss. Er wurde vom Sturm nackt an die Küste der Phäaken geworfen. Nausikaa, die Tochter des Königs Alkinoos, hat ihn dort getroffen, als sie Kleider ihrer Aussteuer wusch. Etwas davon hat sie ihm gegeben - wir werden noch sehen, wie dies vor sich gegangen ist - und ihn angewiesen, wie er bei den Phäaken Aufnahme finden wird: Er solle in den Palast ihres Vaters Alkinoos gehen und dort ihre Mutter Arete um Asyl bitten. (Die Auffällige Tatsache, dass er ausgerechnet die Frau des Königs um Asyl bitten soll, ist übrigens für den Briten Samuel Butler eines der Argumente dafür gewesen, dass eine Frau die Odyssee geschrieben hat [ The Authoress of the Odyssey, London 1897], und zwar keine geringere als Nausikaa selbst, die in Trapani lebte. Doch zurück zum Thema!). Odysseus befolgt diese Anweisung, kommt (zunächst in einen Nebel gehüllt) in den Palast des Alkinoos und spricht zu Arete:"'Arete, Tochter des gottgleichen Rexenor! Zu deinem Gatten und zu deinen Knien komme ich, nachdem ich vieles ausgestanden, und zu deinen Tischgenossen, denen die Götter Segen geben mögen. (...) Gebt mir ein Geleit, damit ich ins Vaterland gelange, eilends, da ich schon lange fern der Meinen Leiden leide.' So sprach er, und er setzte sich neben dem Feuer auf die Feuerstelle in die Asche. Alle verstummten in Schweigen. Spät erst sprach der greise Heros Echeneos, welcher der älteste der Männer der Phäaken war (...)" (146ff.). Die Reaktion auf die Rede des Odysseus ist also langes Schweigen, und schliesslich ergreift weder die angesprochene Königin noch der König das Wort, sondern der Älteste der Phäaken. Warum dies alles? Die Stille lässt sich dadurch erklären, dass grosse Verwirrung herrscht. Niemand hat gesehen, wie der Fremde, der ja in einen Nebel gehüllt war, hereingekommen ist. Niemand weiss, wer er ist und woher er kommt. Dass aber weder die Königin noch der König antworten, bleibt zunächst seltsam.

Der Alte schlägt nun vor, man solle den Fremden doch zu Tische bitten, was dann auch geschieht. Odysseus isst und trinkt. Währenddessen ergreift wieder jemand das Wort - noch immer nicht Arete, die angesprochen war, sondern der König, und dieser spricht nicht zum seltsamen Gast, sondern zu den versammelten Edlen:"Geht jetzt schlafen, morgen wollen wir dem Fremden ein Geleit besorgen, auch wenn er weitab wohnt. Vielleicht ist er auch einer der Unsterblichen - es wäre nicht das erste Mal, dass einer von ihnen zu uns kommt." Die Rede betont in auffälliger Weise, dass man nicht weiss, woher der Fremde kommt und wer er ist. Sie richtet sich nur vordergründig an die Edlen, eigentlich aber an den (immer noch essenden) Odysseus, im Sinne einer Aufforderung, er solle doch wenigstens sagen, wohin er wolle.

Für Odysseus ist die Lage nicht ungefährlich. Vor allem muss er jetzt verhüten, dass man ihn für einen Gott hält. Verehrung ist das Letzte, was er jetzt brauchen könnte - er braucht Handgreifliches: Essen, Kleidung, ein Schiff. Um dies zu verhüten (und auch, weil er sehr wohl gemerkt hat, dass Alkinoos im Grunde nicht die Hofleute, sondern ihn angesprochen hat), ergreift er nun das Wort:"Alkinoos! Kümmere dich um etwas anderes in deinem Sinn! Denn ich gleiche nicht den Unsterblichen, die den weiten Himmel innehaben, weder an Gestalt noch an Wuchs, sondern sterblichen Menschen. "(207ff.) Das heisst: "Schau mich doch nur genau an! Sehen die Götter etwa so aus?" Er fährt fort: "Denen möchte ich mich wohl an Schmerzen vergleichen, von denen ihr wisst, dass sie am meisten Jammer haben unter den Menschen. Und ich könnte überdies noch mehr Übel nennen, soviele ich insgesamt gelitten habe nach der Götter Willen." Damit ist der Uebergang vollzogen von seinem Aussehen zum Appell an das Mitleid. Auffällig ist nun die Fortsetzung: "Aber lasst mich essen, wenn ich auch grosse Sorgen habe!" Damit erinnert er den König an die alte, uns bekannte Anstandsregel, dass man einen Gast zunächst einmal essen lässt, bevor man ihn ausfragt - eine Regel, die Alkinoos zwar der Form nach respektiert hat. Aber er hat doch mit seinen Worten an die Edlen seine Ungeduld zu offen gezeigt, was ihm nun Odysseus vorwirft.

Hat sich der Bettler da nicht zu weit vorgewagt? Er begründet seine Aufforderung, man solle ihn in Ruhe essen lassen, mit den Worten: "Denn es gibt nichts Hündischeres ausser dem bösen Magen, der befiehlt, dass man seiner notgedrungen gedenke, auch wenn man noch so sehr erschöpft ist und Jammer im Herzen hat." Darauf bringt er nochmals seine Bitte um Geleit vor. Hier hat der Listenreiche ein weiteres Mal mehrwertig gesprochen: Er entschuldigt sein Verhalten, die drastische Schilderung seines Hungers appelliert nochmals an das Mitleid und macht zudem deutlich, dass er kein Gott ist. - Nach dem Essen gehen die Edlen, welche die Worte des Odysseus beifällig aufgenommen haben, zu Bett.

Nun ist man unter sich: Odysseus, Alkinoos, Arete. Nun erst beginnt die Königin zu reden, denn sie erkannte Mantel und Leibrock, als sie sie sah, die schönen Gewänder, die sie selbst mit den dienenden Frauen gefertigt hatte. Und sie begann und sprach zu ihm die geflügelten Worte:"Fremder! Zuerst will ich selber dieses fragen! Wer bist du und woher unter den Männern? Wer hat dir diese Kleider gegeben? Sagtest du nicht, du seist als ein Umgetriebener über das Meer hierhergekommen?" (234ff.) Drei Fragen: die klassische nach der Herkunft, nach den Kleidern, nach seinem unmittelbaren Woher. Warum sagt sie dies erst jetzt, fast 100 Verse, nachdem der Fremde sie angesprochen hatte? - Es war nicht nur der Anstand, der sie zögern liess: die Frage nach den Kleidern ist auch ausgesprochen peinlich. Man denke sich noch heute in einem abgelegenen Dorf in der Peloponnes oder auf einer Insel die Situation, dass ein leicht gealterter Tramper oder Landstreicher plötzlich im Haus des vornehmsten Mannes auftaucht, angetan mit Kleidern, die offensichtlich zur Aussteuer der wohlbehütetn Tochter gehören! Das lässt nur zwei Erklärungen zu: Entweder ist er ein Kleiderdieb, oder er hat mit der Tochter angebändelt, und beides ist ein Skandal. Danach fragt man lieber erst, wenn man unter sich ist.

Was soll Odysseus nun sagen? Jeder von uns hätte wohl gesagt:"Bitte keine Missverständnisse - ich bin der grosse Odysseus, dessen Taten vor Troia man kennt." Ganz anders Odysseus. Er geht zunächst auf die zuletzt gestellte Frage ein:"Schwer ist es, ausführlich zu berichten, denn die Götter haben mir viele Kümmernisse gegeben" (Appell an das Mitleid). Es folgt die Schilderung des Sturms, der Landung bei Kalypso auf Ogygia, der letzten Station vor dem Phäakenlande. Nun ist freilich ein siebenjähriger Aufenthalt bei der Nymphe mit den schöngedrehten Locken (Marinatos, Arch. Hom. B 2) in der gegenwärtigen Lage - mit den Kleidern, die der Tochter des Hauses gehören, am Leibe - keine Empfehlung. Deshalb erzählt Odysseus diesen Aufenthalt als eine Art Verbannung; sogar das Angebot, ihn unsterblich zu machen, habe er abgelehnt (256ff.). Damit macht er klar, wie sehr es ihm ernst ist mit der Heimkehr, und auch: dass er kein Frauenheld ist. Nach einer nochmaligen Schilderung seiner Leiden berichtet er von seiner Landung. Nun muss er erzählen, wie er zu seinen Kleidern gekommen ist - und zwar so, dass er weder sich noch das Mädchen kompromittiert. "Da bemerkte ich am Ufer die Dienerinnen deiner Tochter, die spielten, und unter ihnen war sie selbst, Göttinnen gleichend. Diese flehte ich an. Sie aber verfehlte den edlen Sinn in keiner Weise, wie du es nicht erwarten würdest, dass ein Jüngerer, der dir begegnet, handelte. Denn immer sind die jungen Leute unverständig." (290ff.). Die Dummheiten, die herangewachsenen Töchtern in den Sinn kommen können, sind hinlänglich bekannt; Odysseus hat damit auf feine Art klargemacht, dass er auf unbedenkliche Weise zu den Kleidern gekommen ist. Er schliesst ab: "Damit habe ich Dir, wenn ich auch sehr bekümmert bin, die Wahrheit erzählt" (297 ) , und rühmt noch einmal Nausikaa. - Die Wahrheit hat er erzählt, ja, aber nicht die ganze, denn die erste der drei Fragen ("Wer bist du und woher unter den Männern?") ist unbeantwortet geblieben, und damit entfällt die Antwort, die, wie es scheinen möchte, am ehesten die Situation geklärt hätte. Alkinoos nimmt nochmals das Wort:"Wenn doch, bei den Göttern, ein solcher Mann, wie du es bist, meine Tochter heiraten wollte! Und dann, noch direkter: Ich gäbe dir Haus und Besitz, wenn du aus eigenen Stücken bleiben wolltest. Aber gegen deinen Willen wird dich keiner der Phäaken zurückhalten (314ff.). Er verspricht ihm für diesen Fall Schiff und Geleit für die Fahrt in die Heimat, von der er nochmals betont, dass er nicht weiss, wo sie liegt.

Wieder ist Odysseus in der unangenehmen Lage, dass man es zu gut mit ihm meint. Wie die Verehrung als Gott, so ist auch dieses Ehe-Angebot zuviel des Guten. Wie soll er auf dieses zwar höfliche, aber doch deutliche Angebot reagieren, ohne den Gastgeber (von dem ja sein Leben abhängt) zu verletzen? Das Beste ist, wie so oft, dass man so tut, als ob man einen Teil des Gesagten überhört hätte. Odysseus betet:"Vater Zeus! Möge Alkinoos alles vollenden, was er gesagt hat! Er möge unauslöschlichen Ruhm erhalten auf der nahrungsspendenden Erde, ich aber in meine Heimat gelangen!" (331f.) So ist denn auch dies glücklich abgebogen.

Verständlich, dass man vergessen hat, dass Odysseus die Frage, wer und woher er sei, gar nicht beantwortet hat! Auf die Frage, warum er der Antwort ausgewichen ist, gibt es zwei Erklärungen, die beide gleich berechtigt sind. Zunächst ist es eine Frage der dichterischen Ökonomie, dass die Selbstoffenbarung des Odysseus hinausgezögert wird, um dann im 9. Buch (19ff.) umso grössere Wirkung zu erzielen. Das Verhalten des Odysseus ist aber auch in seinem Charakter begründet. Er ist eben so: nie gibt er auf Anhieb seinen Namen preis, von Grund auf, wie Athene einmal bemerkt, sind ihm die diebischen Worte lieb (13,295). Gelogen hat er freilich nicht am Hof der Phäaken; er ist nur ein bisschen ausgewichen. Dass die Scheu, den Namen zu nennen (die ihm ja einmal das Leben gerettet hat), geradezu eine Manie ist, zeigt sich noch im 24. Gesang, also nach der Ermordung der Freier, wo er seinem eigenen Vater aus alter Gewohnheit zunächst eine Lügengeschichte auftischt, bevor er sich ihm zu erkennen gibt.

* * *

Wie aber ist Odysseus zu diesen Kleidern gekommen? Diese Szene, eine der beliebtesten des Epos. sei hier nun noch als letzte kurz besprochen. Sie kann als Abschluss und in gewissem Sinn auch als Höhepunkt dieser Betrachtungen über die Kunst des Umgangs mit Menschen gesehen werden.

Am Ende des 5. Gesangs kommt Odysseus auf Scheria an Land: "Geschwollen war er am ganzen Leib, und Meerwasser quoll ihm viel durch den Mund und die Nasenlöcher" (455f.). Im 6. Gesang kommt Nausikaa mit ihren Freundinnen an den Strand, wo er schläft. Durch das Geschrei der Spielenden wird er geweckt und tritt nackt aus dem Gehölz hervor. Alle stieben davon, nur Nausikaa bleibt stehen. Nun muss er um sein Leben reden, denn wenn auch diese davonrennt, ist er verloren. Die Lage ist nicht minder gefährlich als damals in der Höhle des menschenfressenden Kyklopen. Er überlegt sich, ob er ihre Knie umfassen und die Jungfrau mit dem schönen Antlitz anflehen soll (141f.), doch kommt diese überlieferte Geste des Schutzflehenden hier nicht in Frage. Eine Begründung wird dafür nicht gegeben, weil sie offenkundig ist: Er, nackt und salzverkrustet, kann diese offensichtlich vornehme junge Dame nicht anfassen. Es bleibt eine süsse und gewinnbringende Rede aus der Distanz (149ff.):

 

"Bei deinen Knien flehe ich zu dir, Herrin!" (Verbaler Ersatz für die Geste). "Bist du eine Göttin oder eine Sterbliche?" Das heisst:"Bleib stehen, ich mache dir nichts!" "Wenn du eine Göttin bist, wie sie den breiten Himmel innehaben: der Artemis mag ich dich dann, der Tochter des grossen Zeus, an Aussehen und Grösse und Wuchs am ehesten vergleichen. Artemis ist die Unberührbare, dazu kommen noch Komplimente für ihre Schönheit, insbesondere die Figur, um ihr Wohlwollen zu gewinnen. Bist du aber eine der Sterblichen, die auf Erden wohnen: dreimal selig dir dann Vater und hehre Mutter, und dreimal selig die Brüder! Erwärmt sich ihnen doch wohl sehr der Mut immer im Wohlgefallen um deinetwillen, wenn sie ein solches Reis zum Reigen gehen sehen. Der aber ist der weitaus Seligste im Herzen, ausnehmend vor den andern, der dich mit Brautgeschenken schwer aufwiegend zu sich in sein Haus führt!" Welches Mädchen hätte damals anderes im Kopf gehabt? Odysseus sieht ja auch die Wäsche, die herumliegt und offensichtlich zu einer Aussteuer gehört. Erotische Komplimente sind freilich gefährlich, sie können leicht zu Missverständnissen führen. Deshalb beeilt er sich, hinzuzufügen: "Heilige Scheu fasst mich, wenn ich dich ansehe." Also wieder:" Nur keine Angst!" - "Ja, in Delos habe ich so einst den jungen Wedel einer Palme wie einen Speerschaft (R.E. Harder, Gy. 1988, 511f.) aufsteigen gesehen - auch dorthin nämlich kam ich, und es folgte mir viel Volk auf dem dem Weg, auf dem mir schlimme Leiden geschehen sollten." Das ist vierwertig gesprochen. Erstens, vordergründig, ein Bericht von einem Erlebnis auf Delos, zweitens (es folgte mir viel Volk) der Hinweis darauf, dass der Sprecher eine Führungspersönlichkeit ist (Sie erinnern sich an die Mantel-Geschichte am Anfang dieses Vortrags), drittens "Ich bin ein weitgereister Mann", viertens (und nicht zu verachten): die Erwähnung der Leiden zwecks Weckung mütterlicher Gefühle. Und dann, nachdem er den Boden mit 30 Versen "süsser und gewinnbringender Rede" gelockert hat, kommt er zur Sache: "Zeige mir die Stadt und gib mir einen Fetzen, ihn umzuwerfen! (...) Und mögen dir die Götter alles geben, was du begehrst in deinem Herzen: Mann und Haus, und mögen sie dazu die rechte Eintracht geben. Denn es gibt nichts Kräftigeres und Besseres als dieses: dass einträchtigen Sinns in den Gedanken haushalten Mann und Frau - sehr zum Leide der Übelgesinnten, zur Freude aber der Wohlgesinnten, und am meisten fühlen sie es selber." (148-185). Der Segenswunsch ist wieder mehrwertig: Odysseus zeigt, dass er sie versteht, dass er sie gernhat, ohne sie zu begehren. Mit der abschliessenden allgemeinen Sentenz unterstreicht er nochmals, dass er trotz seiner momentanen äusseren Erscheinung nicht niemand ist, sondern ein kluger Mann.

Der Charme der Szene beruht auf der Meisterschaft, mit der Odysseus hier damit spielt, dass er ein Mann und die Angesprochene eine junge Frau ist. Insofern sind seine Worte süss. Gewinnbringend sind sie ihm aber, weil er es auf unnachahmliche Weise versteht, Nähe mit Distanz zu verbinden.

* * *

Nun ist es Zeit, die vorgelegten Beispiele nochmals kurz zu überblicken. Die Technik der mehrdeutigen Rede wird fast ausschliesslich von sozial Höhergestellten angewandt. Zweimal wendet sie Odysseus gegenüber Personen an, die nicht seines Ranges sind. Das eine Mal, bei der Mantelgeschichte, gibt er Eumaios nachher noch eine Verdeutlichung seiner Worte, um sicherzustellen, dass er richtig verstanden wird - etwas, das er sonst nicht tut. Das andere Mal, beim Kyklopen (ich habe diese Stelle hier nicht besprochen) endet der Versuch mit einem Misserfolg. Menschenfresser haben eben keinen Sinn für derlei Finessen. In der Ilias, die ja in Vielem altertümlicher ist als die Odyssee, findet man, soviel ich sehe, diese Redetechnik nicht, auch nicht bei den schwierigen diplomatischen Verhandlungen mit dem grollenden Achilleus im 9. Gesang.

Homers Dichtungen, man braucht es nicht eigens zu betonen, gelten als Muster episch-breiten Erzählens; ihre Anschaulichkeit ist immer wieder gerühmt worden. Oft vergisst man aber, wie ausgesprochen sparsam in den homerischen Gedichten die Menschen geschildert sind. Wir werden zwar mit vollen 18 Versen über die Konstruktion von Odysseus' Floss ins Bild gesetzt (5,247-261), aber ein halbwegs brauchbares Signalement liesse sich von keiner Gestalt in Ilias und Odyssee geben. Wenn man im Kontrast dazu etwas Gottfried Keller oder gar Thomas Mann liest, wird einem diese Eigenart besonders deutlich. Wie einer ist, das wird bei Homer vor allem dadurch deutlich, wie er handelt und spricht. ("Sprich, damit ich dich sehe!" soll Sokrates einmal zu einem jungen Mann gesagt haben, den man ihm als Schüler anvertrauen wollte). Seltsamerweise fällt den meisten Lesern diese Sparsamkeit in der Schilderung der Personen gar nicht auf. Offenbar enthält das Epos eine ausreichende Anzahl von Informationen - in der Odyssee insbesondere auch Informationen über Sprechweise und Charakter der Gestalten - , die es dem Leser erlauben, sich selbst ein Bild dieser Gestalten zu erschaffen.

Damit hängt möglicherweise auch die erstaunliche unmittelbare Lebendigkeit zusammen, die dieses Epos trotz seinen mehr als zweieinhalb Jahrtausenden an Alter immer wieder auszustrahlen vermag. Weil wir selbst es sind, die wir aus dem Material, das uns der Dichter zur Verfügung stellt, das Bild dieser Gestalten zeichnen, kann dieses Bild auch nicht veralten. Es wird vom Leser immer wieder neu geschaffen, ist immer zeitgleich mit uns. "Sprich, damit ich dich sehe!" - auch dies ist ein Grund dafür, dass wir in diesen Gedichten finden können, was der junge Goethe gefunden hat. Es war schon davon die Rede: "abgespiegelte Wahrheit einer uralten Gegenwart".

(Nachbemerkung: Praktisch unveränderter Text eines Vortrags, den ich am 24.06.1988 vor der Literarischen Vereinigung Winterthur gehalten habe. Ich verdanke einer Interpretation des 6. Gesangs, die David West 1977 in Perugia vorgetragen hat, einen entscheidenden Anstoss [Homer in the University. Didactica Classica Gandensia 17-18, 1977/78, 108ff.]. Geschrieben habe ich diesen Vortrag in einem Urlaubsquartal, praktisch nur mit dem Text in der Hand. Nachdem ich mein Material gesammelt hatte, habe ich - mehr im Sinne einer Anregung als durch Übernahme von Einzelheiten - von Siegfried Besslichs feinfühligen Interpretationen in "Schweigen - Verschweigen - Übergehen" [Die Darstellung des Unausgesprochenen in der Odyssee, Heidelberg 1966] einigen Gewinn gehabt. Si parva licet componere magnis: Im Jahr nach meinem Vortrag ist das höchst anregende Odyssee-Buch von Uvo Hölscher [Die Odyssee. Epos zwischen Märchen und Drama. München 1989] erschienen, das auch viele Beobachtungen in der Art der hier vorgelegten enthält).

(zurück zu outis-Hauptseite)